"Geht das auch zuhause?"
Diese Frage an den Oberarzt der Kinder-Intensivstation, auf der unsere jüngste Tochter – mit kurzen Unterbrechungen – seit ihrer Geburt schon viele Monate lag, war gewissermaßen das Startzeichen für das Zusammenleben mit Alena zu Hause.
Zu diesem Zeitpunkt schien es, dass unsere Tochter – zum ersten Mal seit vielen Wochen – auf dem Wege der Besserung war.
Sie lag in meinen Armen und ich hatte den Eindruck, sie genießt es. Hier konnte man sich nur von seinen Gefühlen leiten lassen, denn auf Alenas Gesicht erschien bisher noch kein Ausdruck der Freude oder ein Lächeln, geschweige denn ein Lachen. Anfangs befürchtete ich, es läge am Down-Syndrom.
Denn was wusste ich damals schon darüber: Dass Menschen mit Down-Syndrom im Allgemeinen sehr fröhlich sein sollen; dass sie häufig Herzfehler haben; dass sie als geistig behindert gelten – niemals fähig, ein eigenständiges Leben zu führen.
Doch am Down-Syndrom lag es natürlich nicht: hatte dieses Kind denn bisher überhaupt etwas zu lachen?
Wohl eher nicht: Nach der Geburt die sofortige Trennung von Mutter und Vater, Aufnahme auf die Frühchen-Intensivstation der Kinderklinik wegen Verdachts auf einen Herzfehler, sauerstoffbedürftig, künstlich ernährt durch eine Nasalsonde, versorgt mit einem zentralen Venenkatheter am Kopf.
Mit drei Monaten verschlechterte sich Alenas Zustand und machte eine Herzoperation dringend notwendig. Sie wurde am offenen Herzen operiert, obwohl sie das angestrebte OP-Gewicht noch nicht erreicht hatte.
Nach dieser Operation schien für meinen Mann und mich die Welt unterzugehen: Der gravierendste Herzfehler, ein großes Loch zwischen den Hauptkammern, konnte nicht korrigiert werden.
Nach dieser Palliativ-Operation lag Alena wochenlang wie tot an der Beatmungsmaschine und mit unzähligen Schläuchen versehen – zunächst in einer wohnortfernen Herzklinik, dann – nach ihrer Verlegung – auf der Kinder-Intensivstation der heimatlichen Kinderklinik. Sie war zurückgekommen mit einer sehr schlechten Prognose, quasi „zum Sterben“, so die Worte einer Kinderkrankenschwester – viele Monate danach.
Doch Alena wollte nicht sterben – sie war (und ist) eine Kämpferin. Jedoch –, richtig leben konnte sie in diesen Wochen nach der Operation auch nicht: Vollbeatmet, mit unterschiedlichem Sauerstoffbedarf, immer wiederkehrende Atelektasen und Dystelektasen in der Lunge, Wasseransammlungen im Herzbeutel und zahlreiche andere Komplikationen schienen sich in dieser Zeit abzuwechseln – ohne Aussicht auf Besserung.
Am 01. April 1996 ließen mein Mann und ich Alena auf der Kinder-Intensivstation taufen. Seit Tagen lag sie mit sehr schlechten Sauerstoffsättigungswerten im Blut in ihrem Bettchen und das bei nahezu 100%igem zusätzlichem Sauerstoff.
Die Ärzte und das Pflegepersonal machten wenig Hoffnung und fragten uns, ob wir unsere Tochter taufen lassen wollten. Doch merkwürdigerweise ging uns die Hoffnung nicht wirklich aus – mit Alenas Tod mussten wir zwar rechnen…, doch – wir rechneten nicht damit!
Was wollte ich diesem Kind noch alles zeigen! Es hatte ja von der Welt noch nichts gesehen: keinen Himmel, keine Blumen, keine Vögel.. – nichts Schönes! Alenas bisherige Erfahrungen „von der Welt“ waren fast alle mit Schmerzen verbunden. Das konnte für dieses Kind doch nicht alles gewesen sein! – Wie oft habe ich das in dieser Zeit gedacht und mir gewünscht, ihr all „das Schöne“ zeigen zu können.
Alena kämpfte weiter. Nach mehreren vergeblichen Extubationsversuchen gingen die Ärzte aufgrund der weiterhin bestehenden Ateminsuffizienz von einer „abzusehenden Dauerbeatmung“ Alenas aus.
In einem der zahlreichen Arztgespräche wurde uns die Anlage eines Tracheostomas (Luftröhrenschnitt) als Möglichkeit aufgezeigt, Alena die Atmung zu erleichtern. Am 6. Mai 1996 wurde dann bei Alena ein Tracheostoma angelegt. In den Wochen danach kam es tatsächlich langsam zu einer Stabilisierung ihres Allgemeinzustandes, jedoch bei fortbestehender Dauerbeatmung.
Man müsse jetzt warten, dass Alena größer und stabiler würde, um einen erneuten Versuch zu starten, sie dauerhaft von der Beatmung zu bekommen.
Geht d a s auch Zuhause? Diese Frage löste eine kleine Lawine aus! In den Wochen danach rotierte alles um Alena herum: Die Aussicht, ein dauerbeatmetes kleines Mädchen nach Hause zu entlassen – was vor über 20 Jahren noch nicht häufig vorkam –, setzte zahlreiche Vorbereitungen auf der Station in Gang. Welche Beatmungsmaschine braucht das Kind, welche Hilfsmittel müssen bestellt werden, welche Unterstützung braucht die Familie – wird es überhaupt klappen?!
Mein Mann und ich wurden „am Kind eingearbeitet“, d.h. wir lernten u.a. die Trachealkanüle zu wechseln, die Atemwege abzusaugen und die nasale Magensonde zu legen. Die Funktionen und die Bedienung des Beatmungsgerätes wurden uns erläutert. Bald fühlten wir uns fit und wir durften allein, d.h. ohne Begleitschwester mit Alena von der Station und bald sogar mit ihr draußen spazieren gehen.
Für uns Eltern und für Alenas Schwester Mareike – damals 5 ½ Jahre alt – ein aufregendes Ereignis. Mareike hatte ihre Schwester bisher nur wenige Male sehen können – quasi als Sonderbesuch auf der Kinder-Intensivstation. Nun hatte sie ihr Schwesterchen hautnah und durfte sie im Kinderwagen ausfahren.
Alena konnte zu diesem Zeitpunkt bereits 2 – 3 Stunden ohne Beatmungsgerät – nur über die so genannte „feuchte Nase“ (künstlicher Nasenfunktionsersatz) – atmen, ohne sich gleich zu erschöpfen. Wir brauchten nur die Sauerstoffflasche und das Absaugerät mitzunehmen, ab sofort unsere ständigen „Begleiter“, wenn wir mit Alena unterwegs waren.
Am 20. Juli 1996 – genau 8 Monate nach ihrer Geburt – haben wir Alena mit Beatmungsmaschine nach Hause geholt: Ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom mit einem Gewicht von 5.200 g, beatmungs- und sauerstoffpflichtig, mit einem nicht behobenen Herzfehler und einer Lungenproblematik, mit immer wiederkehrenden Sauerstoffabfällen im Blut. Ein kleines Mädchen, das nicht selbstständig essen und trinken kann (oder will?!) und dass mit 8 Monaten nicht einmal ihren Kopf heben kann.
Dieser 20. Juli war ein ganz besonderer Tag. Er beendete einen 8‑monatigen Ausnahmezustand, in dem wir uns ab der Geburt Alenas befanden: Das tägliche (oft mehrmals tägliche) Hin- und Herpendeln zwischen Klinik und Zuhause, zwischen erster und zweiter Tochter. Die permanente Sorge um Alenas Leben und die unendlich vielen Tränen auf der einen Seite und auf der anderen Seite: der Versuch, mit der Fünfjährigen einen „normalen“ Alltag zu leben und ihr gegenüber psychische Stärke zu zeigen.
Die Entlassung Alenas von der Intensivstation nach Hause war monatelang herbeigesehnt und dennoch von viel Ungewissheit und auch Angst begleitet. Wie würde unser Familienleben nun aussehen? Können wir jemals etwas zu viert unternehmen – oder müssen wir uns als Eltern wieder aufteilen?
Was kann man einem beatmeten Kind an so genannten Außenkontakten zumuten, wie anfällig ist Alena? Darf Mareike ihre – vielleicht erkälteten – Freundinnen mit nach Hause bringen?
Fragen über Fragen stellten sich ein, auch existentielle:
Können wir in einer Notsituation schnell genug und fachlich richtig handeln?
Bekommen wir schnell genug das Sekret abgesaugt, wenn sich Alena die Kanüle „vollhustet“ und zu ersticken droht?
Alenas Gesundheitszustand war zwar einigermaßen stabil, jedoch hatte sie häufig Sauerstoffabfälle und z.T. massive Sekretprobleme, die zum raschen Handeln aufforderten.
Tagsüber war dies meist schnell zu erkennen, doch in der Nacht hatten wir nur einen leichten Schlaf und „große Ohren“, damit wir in Alenas Zimmer (etwa 10 Schritte entfernt) einen Alarm der Beatmungsmaschine und des Pulsoximeters nicht überhörten.
Bei Alarm wachten wir blitzartig auf und eilten in Alenas kleines Intensiv-Zimmer, um zu schauen, was los ist und um u.U. schnell zu handeln bzw. Sekret abzusaugen. Dies ist bis heute so geblieben und wird sich auch nicht ändern!
Sicherheit im Umgang mit Alenas medizinischen Problemen erlangten wir Eltern durch den gelebten Alltag mit ihr und durch die Anwesenheit einer ambulanten Kinderkrankenschwester, die täglich für einige Stunden bei uns zu Hause war. Erfahren in der Pflege von herzkranken und auch beatmeten Kindern war sie für Alena und uns ein Glücksfall. Sie führte nicht nur behandlungspflegerische Maßnahmen durch, sondern gab uns durch zusätzliche Anleitung z.B. beim Kanülenwechsel oder Wechsel der Magensonde die notwendige Routine.
Sie stand für alle unsere Fragen zur Verfügung und hatte großen Anteil daran, dass wir unser Ziel erreichten. Das Ziel, dass Alena bisher „aus der Not heraus“ nicht wieder ins Krankenhaus musste. (Allerdings sind Alena weitere Krankenhausaufenthalte nicht erspart geblieben. So war z.B. die Anlage eines direkten Magenzugangs (PEG) notwendig, da Alena auch zu Hause und mit therapeutischer Hilfe nicht anfing zu essen),
Die Kinderkrankenschwester fragten wir auch um Babysitter-Dienste nach, wenn wir einmal mit Mareike bewusst etwas allein – ohne Alena – unternehmen wollten. Denn die Große kam doch manchmal etwas zu kurz. Denn unsere Tage (und viele Nächte) „gehörten“ lange Zeit vor allem Alena – sie hatte man ständig im Blick, was natürlich auch notwendig war. Auch das rein partnerschaftliche Miteinander kam manchmal zu kurz. Es hat lange Zeit gedauert, bis auch wir uns Auszeiten, sprich z.B. Kino oder Essen gehen oder sogar einen Wochenendurlaub nur zu zweit gönnten, um unsere Kraftreserven aufzutanken.
Durch die sich einstellende Sicherheit im Umgang mit Alenas medizinischen Problemen veränderte sich allmählich unser Familienalltag. Wir trauten uns und Alena mehr zu. Nahmen wir anfangs das Beatmungsgerät noch mit ins Wohnzimmer, um Alena permanent zu beatmen, so stellten wir dies nach einigen Monaten ein und trauten uns, Alena mehrere Stunden nur mit Sauerstoffschlauch und feuchter Nase „zu belassen“.
Wir machten längere Spaziergänge, Ausflüge und Besuche – immer mit Sauerstoffflasche, Absauggerät und ‑schläuchen sowie Ambubeutel und anderem Notfall“besteck“ im Handgepäck. Das war z.T. anfangs recht umständlich und beschwerlich; doch machte es uns und unseren Töchtern Spaß, als Gesamtfamilie mehr zu erleben.
Man konnte zusehen, wie Alena mit der Zeit in sich und ihre Umwelt immer mehr Vertrauen fasste, aufgeschlossener und neugieriger wurde. Die Möglichkeit, sich nur mir feuchter Nase und Sauerstoffschlauch freier bewegen zu können als mit einem feststehenden Beatmungsgerät förderte Alenas Bewegungsfreude, was ihrer gesamten Entwicklung zu Gute kam. Das familiäre Umfeld mit einer großen Schwester, deren
Tun stets aufmerksam verfolgt wurde und wird, war und ist für Alena Entwicklungsförderung schlechthin.
Nach etwa 1 ½ Jahren benötigte Alena keine Beatmung mehr, so dass sie „nur noch“ Sauerstoff über das Tracheostoma brauchte. Monate später benötigte sie auch diesen nicht mehr permanent, sondern nur noch bei schweren Infekten. Dies ist bis heute so geblieben bei weiterhin bestehendem Herzfehler. Der Versuch, das Tracheostoma im Sommer 2000 zu verschließen, gelang leider nicht und endete mit einer erneuten Anlage eines Luftröhrenschnittes.
Dieser Satz ist schnell formuliert und geschrieben. Sein Inhalt birgt jedoch dramatische Wochen in sich, in denen wir befürchteten, dass Alena die Operation nicht überleben wird. Alena hat gekämpft, ist von der Beatmung und vom Sauerstoff losgekommen und nach Wochen auch endlich wieder nach Hause.
Mit einem Tracheostoma, dass wir (und Alena sowieso) kennen und das auch bleiben wird. Denn einen erneuten Versuch, es zu verschließen, werden wir nicht unternehmen. Der Luftröhrenschnitt „gehört“ zu unserer jüngsten Tochter, sie selbst kennt es gar nicht anders.
Alena ist mittlerweile 24 Jahre alt und es geht ihr meistens gut! Sie hat sich langsam (sie lief erst mit 6 Jahren frei), aber stetig entwickelt. Sie hat zunächst einen integrativen Kindergarten besucht (mit Zivi – heute unmöglich, das geht eigentlich nur mit Krankenschwester bzw. ‑pfleger) und ging dann in eine Schule für Geistige Entwicklung. Seit drei Jahren besucht sie in Begleitung einer Krankenschwester eine Tagesförderstätte (Tafö).
Wir kommunizieren mit Alena über lautsprachbegleitende Gebärden und Talker, den sie hervorragend beherrscht! Und ihren Gebärden und dem Talker entnehmen wir, dass es ihr in der Tafö (wie auch schon in der Schule) sehr gut gefällt und sie dort viel Spaß hat!
Ebenso wie es ihr gefällt, mit ihrer Familie Urlaub zu machen, bevorzugt am Strand mit viel Sand – wovon uns natürlich von Anfang an alle Ärzte abgeraten haben. Doch mein Mann und ich lieben die Küste und freuen uns, dass wir Alena dies „Schöne der Welt“ zeigen können und wünschen uns, dass das noch oft der Fall sein darf. Denn auch daraus haben
wir immer die Kraft und Zuversicht geschöpft für den nicht immer einfachen Alltag mit Alena.
Wir freuen uns, dass es ihr jetzt meist gut geht trotz weiter bestehendem Herzfehler und entsprechender Lungenproblematik. Ihr Tracheostoma stört sie (und uns) nicht, sie isst seit ihrem 14. Lebensjahr gerne und trinkt, wenn sie mag. Falls nicht, wird sie nachsondiert – dem Button sei Dank!
Alena ist nun eine junge Frau, die weiß, was sie will (und nicht will) und meistens zufrieden und fröhlich durch ihr Leben geht.
Inzwischen üben wir Eltern uns verstärkt im „Loslassen“ unserer schwerpflegebedürftigen Tochter, was Alena sicherlich auch gut findet. Denn es ist schon normaler, wenn einen mit 24 Jahren nicht die Eltern in die Disko begleiten oder zur Freizeitaktion mit Freunden, sondern jüngere Betreuerinnen.
Und für uns Eltern ist das ja auch nett – sind es doch eine kleine Auszeiten für uns!
Rotraut Schiller-Specht